Magazin

Glastonbury 2022

Aufstand der Anständigen mit Ansage


Was war das denn? Glastonbury, die bekannteste Größe für Schlammschlachten mit musikalischen Rahmenprogramm, kann auch Kundgebung. Abgesehen von einem generations- und genreübergreifenden Line-up von Billie Eilish bis Paul McCartney, kommt das diesjährige “Glasto” nicht nur dank der Gastauftritte von Greta Thunberg und Wolodymyr Selenskyj mit einem gesellschaftlich-politischen Mehrwert daher, der aus gegebenen Gründen besondere Beachtung verdient.

text Manfred Tari
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Danilo Rößger

lesezeit 4 Minuten

Wieder einmal ist auf der politischen Weltbühne der Bär los. Ist doch der ganze Blödsinn der Ewiggestrigen, der Klima- und Menschenschinder*innen gerade um keine Absurdität verlegen. Legt gefühlt nahe, sie hätten das Sagen und der ganze Rest der Welt ist chancenlos diesem ganzen Quatsch etwas entgegenzusetzen. 

Unversehens wird jedoch das Glastonbury Festival zur Nebenbühne der knackigen Kernaussagen zum Weltgeschehen. Ein Festival, dass dank außergewöhnlicher Redebeiträge, Stellungnahmen und sonstigen Appellen der Mitwirkenden jene Antworten liefert, die dem zuvor angeführten Unfug deutlich widersprechen. Jenen Spannungsbogen von paranoiden und kriegslüsternen Fanatikern im Kreml bis hin zu bibelfesten Fundamentalist*innen im US Supreme Court zum Trotz. Jenen Spitzenkräften des gegenwärtigen Grauens, die sich unentwegt der Weltverbesserung aus überholten und nicht mehr zeitgemäßen ideologischen Gründen nach Kräften entgegenstellen und verweigern.

Diese ganze Riege von Revisionisten, die aktuell und in der jüngeren Vergangenheit ohne Rücksicht auf Verluste so tun, als ob ihnen die Welt gehört. Ihnen wurden, dank der eindeutigen Statements nicht nur von Popstars wie Billie Eilish, den Idles, Phoebe Bridgers oder Jarvis Cocker, auf dem Glastonbury öffentlichkeitswirksam vor großem Publikum die Leviten gelesen.

„Look inside your tiny mind”

Mag sein, dass dieses im Südwesten Englands stattfindende Festival in Anlehnung des Comics Asterix und Obelix vielleicht nur die Rolle des berühmt-berüchtigten gallischen Dorfes einnimmt. Die dargebotenen Botschaften auf diesem Festival jedenfalls waren vielfältig und eindeutig. Ganz gleich, ob es sich dabei um die zur Schau getragenen T-Shirt Slogans (Billy Nomates zugunsten von Sea Shepherd) oder Männern in Frauenkleidern (Big Thief, Blossoms und Idles) handelt. Hinzu kommen meinungsstarke Publikums-Statements wie „Fuck the Tories“ im Laufe des Sets von Jamie Webster. die der ewige Polit-Barde Billy Bragg sogleich via Twitter als „the first classic @GlastoLeftField moment of this year“ bezeichnete. 

Das Glastonburý bot zahlreiche solcher Momente. Auffällig häufig äußerten viele der auftretenden Musiker und Musikerinnen ihren Unmut anlässlich der Grundsatzentscheidung der rückwärtsgewandten Rechtsprechung zur Verschärfung des Abtreibungsrechts durch den Obersten Gerichtshof der USA. Olivia Rodigo widmete unter Teilnahme von Lily Allen, der Urheberin des Hits „Fuck you“, diesen sogar namentlich den Richter*innen des Supreme Courts. 

 

Die englische Tageszeitung Guardian schrieb anlässlich des Auftritts von Kendrick Lamar, dem derzeit wohl profiliertesten Sozialkritiker im Popbetrieb, zum Ausklang des Festivals: “His call for women’s rights at the climax was electrifying and an appropriate ending to a festival where plenty of artists have decried the Supreme Court’s dreadful decision.”



Selbst der FAZ blieb das Aufgebot der diversen Meinungsäußerungen auf dem Glastonbury nicht verborgen, sie titelte: „Ein Festival sucht den politischen Diskurs,“ merkte aber auch an, in diesem Jahr sei das „Glastonbury Festival politisch wie eh und je.“ Dies trifft allerdings nur bedingt zu. Auch wenn das Glastonbury im Vergleich zu deutschen Festivals ohnehin einen deutlichen höheren Anteil an politischen Momenten hat, entpuppte sich dieser Jahrgang dank der zahlreichen Bekundungen diesmal als besonders diskursfreudig.

Tatsächlich hat das Glastonbury mit dem „Left Field Tent“, welches in diesem Jahr sein zwanzigjähriges Jubiläum feierte, eine dezidiert politische Bühne, dereinst vom Festivalgründer Michael Eavis gemeinsam mit der Gewerkschaft der Bierbrauer aus der Taufe gehoben. Derlei eindeutiges Engagement eines hiesigen Festivalintendanten oder einer Intendantin ist hier eher selten. Nein, die Fusion zählt nicht, deren nahezu dogmatische Abneigung gegenüber Medienvertreter*innen würde Eavis so "never ever" in den Sinn kommen. 

Zwanglos machte sich der rote Faden der Politik auch abseits der Bühnen in den Gesprächen bemerkbar. Mit Verweis auf die Rede von Selensky, äußert Pete Doherty von The Libertines im Interview gegenüber dem NME, es sei "wie damals gewesen, als Jeremy Corbyn [2017 und seinerzeit Parteichef der Labour Party, Anm. d. Red.] vor uns eine Rede hielt, als wir bei einem großen Festival auf dem Gelände der Tranmere Rovers spielten.“ Andere Bilder hingegen zeigen Paul McCartney, wie er eine Flagge der Ukraine über die Bühne trägt. 

Klar, Medienschelte gab es auch. Die Autorin Julie Burchill moniert in einem Artikel für „The Spectator“ nicht nur den Ticketpreis in Höhe von £280, sondern merkt zudem  bissig an: “The politics of Woke are easily absorbed by the uber-privileged, having in common the beliefs that the proles are horrid and must be managed.”

Andy Burham, der Bürgermeister von Manchester indes bekommt im Rahmen einer Gesprächsrunde im Left Field Tent für sein Werben eines „Collective Spirit in Politics“ hingegen Szenenapplaus.

Kurzum, ohne selbst jemals auf dem Glastonbury gewesen zu sein, lieferten die zahlreichen Medienberichte einen Nachweis dafür, dass dieses Festival in diesem Jahr einen wichtigen politischen Beitrag zustande gebracht hat.  

Denn abgesehen von den sehenswerten Konzertmitschnitten der BBC, sind es genau jene angeführten Aussagen der Beteiligten und Mitwirkenden, die einen Beleg für das Mitspracherecht in demokratischen Gesellschaften erbracht haben. 

Ein Umstand, der oftmals für selbstverständlich erachtet wird. Gleichwohl verdeutlicht die gegenwärtige Nachrichtenlage und politische Großwetterlage, wie wichtig die gesellschaftliche Teilhabe für die politische Willensbildung in demokratischen Gesellschaften ist. Das Glastonbury hat in dieser Hinsicht seinen Job gemacht. Sogar so gut, dass in diesen Zeiten hierzu bestenfalls zur Nachahmung angeraten ist.