Magazin

Tollkühn gegen den Wind

Watt en Schlick Festival 2021


Das Watt En Schlick Fest ist laut Chris von den Rikas „absolute Bundesliga“. Und dafür gibt es gute Gründe, die jeden Artikel über das Festival gnadenlos sprengen würden. Deswegen fokussiere ich mich auf den wichtigsten: die Menschen.

text Henrike Schröder
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Till Petersen

lesezeit 8 Minuten

Die, die auf der Bühne stehen, die freiwillig helfen, die langsam im Watt versinken, während sie gar nicht fassen können, dass sie endlich wieder Livemusik hören und die, die das Fest veranstalten – und das während Corona. Mit Till Krägeloh, Veranstalter des Watt En Schlick, Hygienebeauftragter Dr. Nikolai von Schröders und Chris von der Band Rikas habe ich über Herausforderungen bei der Organisation, Unsicherheiten und Glücksfälle gesprochen.

„Möchtest du mitspielen?“ Ein kleines Mädchen, vielleicht 5 oder 6 Jahre alt steht neben mir. „Wenn das Licht auf dich zeigt, musst du tanzen!“, erklärt sie die Spielregeln recht laut. Denn durch ihre Kopfhörer hört sie nur gedämpft. In der Hand hält sie eine Art Taschenlampe die statt normalem hellen Licht buntes Disko-Licht erzeugt. Sie hält sie so hoch sie kann, weifelt damit im Takt der Musik – Milky Chance geben gerade das Abschlusskonzert auf der Hauptbühne – und langsam füllt sich ihre Tanzfläche. Sogar die DLRG tanzt vorbei. Das Mädchen ist währenddessen schwer damit beschäftigt ihre Freude zu verstecken – hoch konzentriert, den Blick auf den Boden gerichtet. Schließlich ist es keine einfache Aufgabe Diskokugel zu sein. Das erfordert komplette Aufmerksamkeit. 

„Manchmal muss man mutig voran gehen, denn eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie.“

Etwas früher an dem Tag treffe ich an derselben Stelle – zwischen Hafen und Strand – Till Krägeloh, Veranstalter des Watt En Schlick. Es ist der letzte Festivaltag und ich erwische ihn kurz vor seiner Abschlussrede. Er wirkt kaputt, aber selig und stolz auf das, was er geschafft hat: ein Festival zu Coronazeiten, das sich anfühlt wie Normalität. „Das war auch das Ziel“, erklärt Till. „Wir haben gesagt, dass das Watt En Schlick nur ohne Abstand und Maske stattfindet. Irgendwann muss ja wieder Normalität herrschen und das WES soll ein Schritt in diese Richtung sein. Denn wenn wir uns verbarrikadieren wird es schwierig in die Normalität zurückzufinden. Manchmal muss man mutig voran gehen, denn eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie.“ 

Die Sicherheit, die das Watt En Schlick mit seinem Safe-Bubble-Konzept bietet, wurde in kürzester Zeit erarbeitet, hinterfragt, wieder umgeworfen und neu beschlossen – immer in Abstimmung mit der Stadt Varel, dem Landkreis und dem Land Niedersachsen, unter deren Zusammenarbeit das Watt En Schlick zum Modellprojekt wurde. An der Entwicklung des Hygienekonzepts waren vor allem Till und Dr. Nikolai von Schröders als Hygienebeauftragter maßgeblich beteiligt. „Niko hat mich im Februar angeschrieben“, beginnt Till schmunzelnd. „Er schrieb, er sei Watt En Schlick Fan und wolle das Festival unbedingt möglich machen und dafür Testungen anbieten. Ich habe gedacht, mir wolle jemand etwas verkaufen und habe nicht geantwortet. Gegen Ostern hat er nochmal geschrieben, dass er nichts daran verdienen, sondern das einfach gerne machen wolle. Wir haben telefoniert und schnell festgestellt dass wir eine Sprache sprechen.“ 

Veranstalter Till Krägeloh


Hygienebeauftragter Dr. Nikolai von Schröders

„Till hätte sich auch ohne mich was ausgedacht“, beginnt Niko bescheiden lächelnd etwas früher am Tag seine Seite der Geschichte zu erzählen. Seine Fingernägel und sein Gesicht glitzern dabei gleichermaßen, das T-Shirt ist bunt besprenkelt. Während wir sprechen wechselt sein Ausdruck zwischen freudestrahlender Euphorie und pragmatischer Ernsthaftigkeit. „Wir haben von Anfang an ganz stark auf das Testen gesetzt und damit ein Safe-Bubble-Konzept entwickelt“ erklärt er. „Wir haben die Blase möglichst groß und in sich geschlossen gehalten und nach außen so stark abgesichert, wie es geht. Innen ist es dafür entspannt. Das ist der große Unterschied zu vielen anderen Konzepten.“ Ohne Maske und Abstand, dafür aber mit Testungen – jeden Tag für jeden, auch für Geimpfte und Genesene. Das war nicht von Anfang an der Plan. Erst mit dem Aufkommen der Delta-Variante und nachdem es bei einer Open Air Veranstaltung in Utrecht mehr als 1.000 Infizierte gab wurde nachgeschärft. „Selbst wenn jemand infiziert ist und beim Schnelltest nicht gefunden wird, weil es zu früh ist, ziehen wir ihn so am nächsten Tag raus, bevor er stark infektiös durch die Gegend läuft“, erläutert Niko ganz pragmatisch das Konzept. 

„Hätte einer gesagt ‚Wir sind raus!‘ wäre ich damit auch raus gewesen.“

Trotzdem war der Vorfall in Utrecht ein Schockmoment für beide. „Wir haben schon Angst gehabt, dass das Festival verboten wird“, gibt Niko zu. „An dem Punkt hat Till stark reagiert. Er hat direkt alle Beteiligten der Stadt und des Landkreises angesprochen und vermittelt.“ Daraufhin wurde nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art der Testung dahingehend verändert, dass nur digital bestätigte Tests akzeptiert werden sollten. „Weil eine Quelle gewesen sein könnte, dass Tests akzeptiert wurden, die nicht sauber waren“, erläutert Niko. „Das hat wieder Sicherheit geschafft und alle waren sich einig, dass sie diese Entscheidung mit tragen“, berichtet Till von dem Moment Mitte Juli – etwa zwei Wochen vor dem Festival. „Hätte einer gesagt ‚Wir sind raus!‘ wäre ich damit auch raus gewesen. Aber mir wurde sehr viel Vertrauen geschenkt in dem Prozess.“ Das Vertrauen kam auch von anderen Seiten. Auch die Landwirt:innen, denen das Land gehört, auf dem jetzt die 5.000 Besucher:innen des Festivals campen, sind kaum skeptisch, als Till ihnen das Konzept vorstellt. „Sie waren sofort dabei. Deren Wahrnehmung war nicht, dass jetzt die Städter hier hin kommen und Corona mitbringen“, sagt er nüchtern und scheint anschließend selber erst zu bemerken was für ein Glücksfall das ist. „Ja, es ist einfach krass“, fügt er verwirrt lachend hinzu. 


Einer der Campingplätze stellt das Konzept jedoch vor eine Herausforderung. Um von C4 zum Gelände zu kommen geht man einen etwa 15-minütigen Weg über öffentliches Gelände. „Wir haben eine Inzidenz von 1, also besteht keine Maskenpflicht“, fängt Niko an zu erklären. "Wir haben allerdings  kommuniziert, dass Maskenpflicht vor Eintritt aufs Gelände besteht. Daran haben sich jetzt nicht so viele gehalten“, er muss selber leicht schmunzeln bei der Feststellung. „Warum sollst du auch, nur weil du ein Festival besuchst, eine Maske auf der Straße tragen, wenn alle um dich herum das nicht tun?“ Doch die Nordsee kam ihnen an dem Punkt zu Gute. Denn der Weg zum Gelände führt größtenteils über die Deiche. „Es gibt keinen Ort, der sicherer ist, als einer an dem Wind weht“, stellt Niko fest. „Er bläst in null Komma nix alles weg.“ Eine andere Schwierigkeit war nicht so einfach zu ignorieren.

„Das allergrößte Problem ist die Internetverbindung.“

Niko muss direkt lachen, als wäre er immer noch selber überrascht von der Banalität des Problems. „Wir hatten Freitagabend eine halbe Stunde kein Internet weil die ganzen Masten abgeschaltet waren. Da war aber Holland in Not. Das wäre etwas, was ich beim nächsten Mal schon in der Organisation anders machen würde.“ Vielleicht so, wie die Kolleg:innen vom Rundfunk: über Satellit.


„Was, wenn ich dir sage, du bist nicht alleine?“

Rikas spielen am Freitag das erste Konzert, nachdem Till in seiner Eröffnungsrede nochmal dazu aufruft aufeinander Acht zu geben. Doch nach den warnenden Worten überschlagen sich die darauffolgenden fast: „Ihr seid alle da und ihr seid alle negativ getestet. Das heißt: Ihr könnt hier ausrasten. Ihr könnt hier tanzen. Ihr könnt Bier trinken.“ Eigentlich redundant das auf einem Festival zu sagen. Doch es klingt nach Erlösung. „Bei uns war’s wie ein Schalter, der umgelegt wurde“, erklärt mir Chris von den Rikas nach dem Konzert. „Wir sind angekommen, alle mit Maske, haben uns zur Begrüßung nur zu gewunken. Dann wurden wir negativ getestet und es ging los.“ Er muss lachen. Denn gerade als Künstler:in war das letzte Jahr nicht einfach. „Wir waren natürlich froh, wenn überhaupt etwas stattfinden konnte“, berichtet er. „Aber die Endstufe waren Streaming-Konzerte. Das ist einfach undankbar für die Künstler. Man spielt, gibt alles und wenn man fertig ist kommt nichts. Da merkt man nochmal, wie wichtig das Verhältnis von Publikum zum Künstler ist.“

Chris (Rikas)





Dass das wichtig ist, spürt man das ganze Festival hindurch. „Was, wenn ich dir sage, du bist nicht alleine? Du bist wütend und wirfst keine Steine…“ singt Vincent von Provinz mit so viel Ausdruck in der Stimme, den Blick gebannt aufs Publikum gerichtet, als würde er fürchten, es wäre weg wenn er ihn löst. Dass das nicht weiter entfernt von der Realität sein könnte, zeigt ein schweifender Blick in die Menschen, die jetzt euphorisch mitsingen, zusammen tanzen oder mit einem Kind an der Hand und den Füßen im Watt den Kopf strecken, um wenigstens ein bisschen was von der Bühne zu sehen. Bis zum Auftritt von Provinz am Samstagnachmittag hatte es den ganzen Tag geregnet. Jetzt scheint die Sonne und Regenjacken werden einheitlich ausgezogen. „Irgendjemand meint es gut mit uns“, fasst Vincent kurzerhand die Situation zusammen. Nur der Wind bleibt. Und so kämpft sich die Nebelmaschine am Rand der Bühne unermüdlich ab, während der erzeugte Nebel direkt weggeweht wird, noch bevor er die Band erreicht. „Habe ich erwähnt, dass das mein allererstes Konzert ist?“ fragt etwas später am Samstag Schmyt auf der Bühne La Mer, direkt hinter dem Hafen. „Ich werde mich vermutlich einige Male verspielen. Aber das wird ok sein, weil das live ist!“ Charmanter kann man sein erstes Konzert wohl nicht beginnen. Darüber scheint Einigkeit zu herrschen. Hauptsache live!

Die Holzkonstruktion, in der das Publikum jetzt tanzt, mitsingt oder auf einzelnen Balken sitzt, hat ihre eigene Geschichte, die aus der Not heraus geboren wurde. Denn wegen Corona musste ein Ersatz für das Zirkuszelt gefunden werden. „Ich wollte eine Bühne, die luftdurchlässig und Pandemie-gerecht ist – also kein Dach hat“, erläutert Till. „Deswegen haben wir sie angelehnt an mein Lieblingsmuseum in Marseille – dem MuCEM. Über dem Museum liegt ein großes Fischernetz, das eigentlich auch auf unserer Bühne liegen sollte. Das kam allerdings zu spät.“ Doch auch ohne Fischernetz ist die Bühne eindrucksvoll. Durch die schweren Holzbalken wirkt sie solide. Gleichzeitig schafft die offene Struktur Leichtigkeit. Als bestünde sie nur aus Fenstern, durch die man den Himmel, die Spitzen der Segel oder die feiernden Besucher:innen beobachten kann. „Man hat eine Bühne, aber man fühlt sich auch wohl, weil sie luftdurchlässig ist“, fasst Till meine abschweifenden Gedanken zusammen. „Das war die Idee. Anschließend habe ich sie einem Freund, der sich auskennt vorgestellt und der hat erstmal gesagt: Du spinnst!“ Till muss wieder lachen: „Er hat aber trotzdem einen Entwurf gemacht. Dann kam die Statik und dann haben wir’s gebaut.“

„Man muss immer ein bisschen tollkühn denken!“

Chris frage ich im Interview, was ihm wichtig ist bei einem Hygienekonzept. „Das ist schwierig zu sagen, schließlich sind in allen Regionen die Vorschriften unterschiedlich“, sagt er etwas zögerlich. „Für uns ist es deshalb schwer abzuschätzen, was wirklich angebracht ist. Für uns ist ein respektvoller und rücksichtsvoller Umgang mit dem Thema wichtig und dann vertrauen wir auf die Instanzen die das Ganze jeweils entscheidet.“ Für das Watt En Schlick ist eine der Instanzen Till, der die Entscheidung getroffen hat, mutig zu sein, „tollkühn zu denken“ – wie er es sagt – und das Festival stattfinden zu lassen und sich vor allem auch der Verantwortung bewusst zu sein. Auf die Frage, welcher sein schönster Moment war antwortet er deshalb: „Das wird heute Abend sein, wenn bei Milky Chance alle zusammen kommen und wir wissen, wir haben es geschafft. Das wird berührend schön und vor allem eine extreme Erleichterung, denn der Druck ist enorm.“

Während die Sonne langsam unter geht, wird die Tanzfläche von dem kleinen Mädchen immer voller und sie versucht ihren Arm noch weiter zu strecken um der wachsenden Größe gerecht zu werden. Und als Milky Chance „Cocoon“ spielen sieht man Till im Bereich neben der Hauptbühne mit einem Glas Wein in der Hand tanzen und dabei immer wieder Leute glückselig umarmen. Selbst auf die Entfernung sieht man den Druck förmlich von ihm abfallen. Was für ein perfekt kitschiges Bild, um damit diesen Artikel zu beenden. Denn wie hätte ein Artikel über das erste halbwegs normale Festival seit Corona auch nicht kitschig enden können?! 

Festivalfinder

Watt En Schlick 2022

29. — 31. Juli – Kurhaus Dangast Strand


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