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SPOT Festival in Dänemark

Auf der Suche nach dem richtigen Spot


Ein Besuch beim SPOT Festival in Aarhus ist Showcase Festival, Branchentreff und Städtetrip in einem – und Zukunftsvision post-pandemischer Festivalbesuche zugleich.

text Lara Gahlow
redaktion Isabel Roudsarabi
fotos Kasper Krupsdahl, Lara Gahlow

lesezeit 6 Minuten

Und da stehe ich nun – oder sitze eigentlich – vor dieser App, die das SPOT Festival bereithält. In einer kleinen, beigen Wohnung mitten in Aarhus, die mich mit skandinavischem Chic willkommen heißt. Oder war es der dreifach faltbare Programmplan, bei dem sich Location an Bühne, Act and Genre reiht? Was da auf jeden Fall noch ist: dieses wunderbare Gefühl der Überforderung. Die Frage danach, was ich jetzt sehen möchte, hier in Aarhus. Ich trete vor die Tür, gehe sieben Minuten und lasse mich dann treiben. Entscheide oberflächlich nach Name und Foto, ergattere Tipps der freundlichen Festivalgäste um mich herum und bleibe bei einer Bühne, weil sie mir so gut gefällt – denn ich kenne zugegebenermaßen nur wenige der Künstler*innen beim SPOT Festival.

Vom Durststillen und Akku aufladen

Nach zwei Jahren (fast) ohne Live-Auftritte ist der Durst nach neuer Musik größer als der Brand am ersten Festivalmorgen. Ich merke schnell: Kleine Showcase Festivals sind ideal, um diesen Durst zu stillen. Auf dem SPOT Festival liegen zwischen euphorischer Begrüßung und ekstatischem Abschlussapplaus rund 30 bis 40 Minuten, natürlich gespickt mit den besten Songs der jeweiligen Künstler*innen.

Rund 200 lokale und internationale Acts, insbesondere aus Nordeuropa, bespielen hier große Bühnen und kleine Orte in der ganzen Stadt.

So kann ich den Live-Musik-Akku, der seit März 2020 beständig weiter in den roten Bereich absank, wieder auffüllen. Ich merke schnell, was auch nach – oder gerade wegen – dieser langen Zeit noch immer Teil einer Festivalerfahrung ist: die ständige Angst, etwas zu verpassen. Denn das SPOT versammelt dieses fulminante Line-up an nur zwei Tagen vom 6. bis zum 7. Mai 2022. Einem Zeitpunkt, der mit Blick auf die dauerrote Warn-App und Inzidenzenstatistiken auf keinen Fall „post-pandemisch“ ist, den ich aber hier trotzdem so bezeichne, weil das SPOT Festival unter altbekannten Bedingungen stattfindet. Ohne Impfnachweis, ohne Maske, ohne Limitierungen.


Und daran müssen sich einige erstmal gewöhnen. Die dargebotenen Kurzkonzerte sind dafür das ideale Format. Wie geht es mir in der dichten Menschenmenge, in der weit und breit keine Maske zu sehen ist? Wie erlebe ich Tumult, Trunkenheit, Tanzeinlagen? Diesen Fragen gehe ich gerne innerhalb einer halben Stunde nach, anstatt bei einem zweistündigen Konzert herausfinden zu müssen: nicht so gut. Aber so weit kommt es gar nicht, denn dreifach geimpft und dazu genesen darf ich feststellen, dass das alles gleich wieder sehr gut funktioniert. Im Gegensatz zu anderen Festivals tanzt man beim SPOT außerdem sowieso nur mit wenigen Hunderten bis höchstens 3.000 Gästen an einem Ort. 

Ade, algorithmisches Entdecken!

Hallo analoges Treibenlassen: Beim stadtweiten SPOT Festival spielen sich viele Konzerte im wirklich coolen „Godsbanen“ ab. Das ist ein alter Güterbahnhof mit einigen unterschiedlich großen Venues und einem Außenbereich, der wohl auch über das SPOT-Wochenende hinaus sommerliche Festivalstimmung verbreitet. Mit einem köstlichen Taco aus dem knallpinken Foodtruck – der verdammt wenig mit fettiger Festivalcalzone zu tun hat – und einem Bier lässt sich hier gut dem DJ-Kollektiv URBAN CONNECTION lauschen, die gekonnt ihre unterschiedlichen musikalischen Einflüsse über den Outdoorbereich ertönen lassen.

Im und um „Godsbanen“, wo 6 der 27 Bühnen zu finden sind, kann Musik wieder per Zufall entdeckt werden, während die letzten zwei Jahre doch von algorithmischer Exploration aka dem Mix der Woche und einer beschämenden Bildschirmzeit geprägt waren. Apropos Screen Time:

Mit effektiv geschnittenen Live-Streams, knackigen Instagram-Videos und Reelgeschwindigkeit hat die Aufmerksamkeitsspanne so mancher Musikfans sicher gelitten.

Auch deshalb gefällt die Kürze der Konzerte und zeigt, dass sich unser Nutzungsverhalten in den letzten zwei Jahren vielleicht ein wenig verändert hat.

Übrigens: Bei einem ersten Blick auf den SPOT-Plan mögen Besucher*innen vielleicht traurig auf jene abgelegenen Locations schauen, von denen sie ahnen, dass sie sich an den beiden vollgepackten Tagen nicht zu ihnen aufmachen werden. Doch hier kommt die Größe des SPOT-Gastgebers Aarhus gelegen: Immer wieder schaut meine Festivalpartnerin in Crime auf Google Maps nach „abgelegenen“ Locations wie dem „Salling Rooftop“ und sagt: „Das sind doch nur 12 Minuten zu Fuß!“ Schon sind wir wieder auf dem Weg und der wird belohnt: Eine gigantische Dachterrasse, die man auf dem karstadtartigen Kaufhaus niemals erwartet hätte, bietet einen Blick über die ganze Stadt, während man bei Aperol Konzerten in einigen Metern Höhe lauscht.



Flankiert wird das Entdecken einer New-Normal-Festivalwelt durch Networking-Veranstaltungen, bei denen sich insbesondere nordeuropäische Menschen, Institutionen und Interessensverbände näherkommen. Hinzu kommen Panels, die in ihrer Vielfalt und Tiefe zwar noch nicht mit den Veranstaltungen auf Showcase-Riesen wie dem Reeperbahn Festival oder Eurosonic Noorderslag mithalten, sich aber trotzdem inhaltlich der Zukunft der Musik- und Festivalindustrie widmen. In Beiträgen wie „Future Touring – A Look Into A Post Covid Live Industry” und Diskussionen zu NFTs wird hier der Blick nach vorne gewagt. Die meisten Angebote sind allerdings auf Dänisch und animieren internationale Gäste vielleicht doch zu einem zweiten Snooze nach einer durchtanzten Nacht. 

Newcomer*innen, Underdogs, Evergreens

Endlich werde ich musikalisch wieder irritiert, herausgefordert – endlich sackt die Kinnlade wieder gen Boden. Den Auftakt des Aufrüttelns macht für mich CXCX ChuChu: eine chinesisch-dänische Rapperin, die vor kurzem von Kanada wieder nach Dänemark zurückgekehrt ist. In einem dunklen kleinen Raum rappt sie wütend und wechselt dabei zwischen Englisch und Mandarin. ChuChu bringt das Publikum zum Lachen und Twerken gleichermaßen. 

Im Kontrast dazu hüpfen auf einer der Outdoor-Stages junge Dän*innen zu den unschuldigen Popsongs von Hedda Mea aus Norwegen und lassen uns mit einem Blick ins Publikum verstehen, dass gleichzeitig die 90er und die 2000er zurück sind.

Denn das 27. SPOT Festival ist auch der Laufsteg einer jungen, musikhungrigen Generation Dänemarks, die ihre Styles endlich wieder aus dem Kleiderschrank kramen kann.

Sprach- und atemlos verlassen wir auch das Konzert von Julie Pavon, die mit einer wahnsinnigen Energie die Bühne bespielt. Die honduranisch-dänische Künstlerin aus Aarhus springt, tanzt, bebt über die Bühne und die Fans können nicht anders, als es ihr gleich zu tun. Was ist dieses Corona? Hier vor der Bühne denkt niemand mehr daran. 

Doch auch bekanntere Evergreens überzeugen: Bei Go Go Berlin hat sich während der Pandemie einiges getan. Sphärisch, kraftvoll und lichtgewaltig performen sie ihr 2021 aufgenommenes Album „Expectations“, das von den frühen Rocksounds der Band wenig übriglässt. Jetzt dominieren Synthies, Drums und die grandiose Dynamik der drei Dänen die Bühne und zeigen: Die Welt ist ganz und gar nicht stehengeblieben. Wir verlassen die Venue „Rytmisk Sal“ im prunkvollen „Musikhuset“, einem weiteren zentralen Spielort des Festivals, mit piependen Ohren und neuen Impulsen für die Playlist.

How can I refer to you?

Dass man bei Showcase Festivals zum Glück von unparitätischen Line-ups weit entfernt ist, wie sie an manchen rockigen Ringen zu finden sind, ist keine Neuheit. Doch das SPOT Festival überzeugt in besonderem Maße mit einem Musikangebot jenseits binärer Realitäten. Was mir dann fehlt: In der sonst übersichtlichen App suche ich vergebens nach Pronomen, mit denen ich nach den Konzerten gescheit über die Künstler*innen schwärmen, diskutieren, reden kann. Denn Genderidentitäten gleiten hier fluide über die Bühne. In diesem Diskurs hat sich in zwei Jahren viel getan, merke ich; bei meinem letzten Großfestival habe ich diese Angabe noch nicht vermisst. 



Eine gute Ergänzung wäre das zum Beispiel für das Konzert Christian Høghs, über das man danach wirklich sprechen möchte. Christian Høgh kommt mit einem fast bodenlangen Rock und verschmierter Schminke auf die kleine Bühne und was dann folgt, macht auf eigenartige Weise Gänsehaut. Die männlich gelesene Person schreit wütend, ja verzweifelt ins Mikrofon, den Mund weit aufgerissen vor Schmerz, der das Publikum ohne Vorwarnung flutet. Das zweites Bandmitglied, ebenfalls im Rock, unterstützt den Rap, der nicht die ganze Zeit so wütend, aber dennoch intensiv bleibt. Abgelenkt wird der kollektive Blick des Publikums nur von der dritten, weiblich gelesenen Person, die im Hintergrund mal an einem Synthi dreht, live Popcorn aufknuspern lässt, sich an ein E-Piano setzt und dann – ja wirklich – Sandwiches auf der Bühne zubereitet.

Übersichtlich, dezentral und mitten in der Stadt

Auch meine unbändige Reiselust und die Erlaubnis, ihr wieder nachzugehen, macht dieses Festival so attraktiv. Weil man neben spannenden, neuen Acts auch Aarhus kennenlernen kann, am Ende eines langen Tages auf richtigen Matratzen zur Ruhe kommt und statt zeltwarmen Milchbrötchen eben verdammt gute Zimtschnecken isst. Wer das letzte Mal 2019 mit Rucksack, Isomatte und LSF 30 losgestiefelt ist, freut sich bei Stadtfestivals vielleicht auch über bequeme Bänke für den schmerzenden Unterrücken, die hervorragende Infrastruktur – keine einzige Kloschlange an zwei vollen Festivaltagen – und einen Sonntag, den man durch die Lage am Meer verbringen kann.


Reeperbahn Festival (Hamburg), Tallinn Music Week (wo wohl?), SHARPE (Bratislava): Diese Festivals waren schon vor Corona ein gutes Format. Doch jetzt, mit Fernweh, Musikhunger und der Erkenntnis, dass man nicht mit 30.000 anderen Ohrenpaaren einem Act lauschen muss, haben sie – zumindest für mich – eine ganz neue Qualität bekommen. Aarhus am ersten Maiwochenende? Definitiv der richtige Spot.