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Anfänge, Stolpersteine und Tragweite

Reeperbahn Festival im Interview


Seit fast 30 Jahren ist Alexander Schulz in der Musikbranche tätig. Seit 2006 veranstaltet er mit dem Reeperbahn Festival eines der größten Clubfestivals und der weltweit wichtigsten Branchentreffen. Im Interview wollten wir wissen, wie es von einer Hip-Hop Compilation Mitte der 90er zu einem Festival kam, das an Stellenwert für Musikschaffende und Industrie gleichermaßen kaum zu überbieten ist.

text Johannes Jacobi
redaktion Johannes Jacobi
fotos Henry Maske

Kannst du dich an den Tag erinnern, als du zum ersten Mal gedacht hast, dass deine Zukunft im Musikbereich liegen könnte und sollte?
Es muss so Ende der 80er Jahre gewesen sein. Es war in einer Vorlesung im Studiengang Kulturwissenschaften in Lüneburg. Mein Dozent hatte einen eigenen Musikverlag. Das fand ich so inspirierend, dass ich schon während des Studiums einen kleinen Musikverlag mit Label gegründet habe. Richtige Einnahmen hatte ich erst Mitte der 90er Jahre mit einer Hip-Hop Compilation mit Fanta Vier und dem Vorläufer von Deichkind. Wir haben auch Record Release Partys gemacht. Die liefen wirtschaftlich ganz gut. Die haben weniger Produktionsaufwand und es war damit leicht Geld zu verdienen. Da habe ich gelernt, Veranstaltungen zu organisieren und mit Markenrechten umzugehen.



Wie ging es dann weiter für dich und wann kam dir der Gedanke mit dem Reeperbahn Festival?
Bei einer Reise zum South by Southwest Festival 2000 nach Austin Texas mit vier Hamburger Bands, unter anderem mit den Sternen, Tocotronic – und der Hamburger Kultursenatorin, kam mir die Idee zum Reeperbahn Festival. In Texas war ich sehr beeindruckt von der unheimlich hohen musikalischen Qualität und einer hohen räumlichen Dichte an Venues. Man ging aus einer Tür raus und in die nächste rein, wenn man Lust auf andere Musik hatte. So etwas Attraktives wollte ich auch machen. Gute, aber unbekannte Musik anbieten, wo die Leute viel erleben können, ohne lange zu fahren. Hamburg mit der Reeperbahn bietet dazu die Möglichkeit – als einzige Stadt in Deutschland. Auch der musikhistorische Kontext von Hamburg hat dazu gepasst.





Viel zu groß! Aber wir wollten unbedingt unbekannte Künstler an das Publikum heranführen ...

Wie war das erste Reeperbahn Festival aus deiner Sicht? 
Das Wichtigste war, Geld zu beschaffen und wir mussten die Kompetenz erwerben, Künstler zu buchen. Die hatte ich damals noch nicht. Wir waren immer noch eine kleine Bude mit zwei, drei freien Mitarbeitern. Aber wir hatten das Glück, dass wir gleich zum Start öffentliche Gelder bekommen haben. In Hamburg war 2004 eine neue Marketinggesellschaft gegründet worden, die die Marke Hamburg etablieren sollte. Die waren auf der Suche nach neuen Zielgruppen. Deshalb haben sie uns rund 200.000 Euro in Aussicht gestellt, bei einem Gesamtetat von rund 800.000 Euro, die wir veranschlagt hatten. Viel zu groß! Aber wir wollten unbedingt unbekannte Künstler an das Publikum heranführen und das ging nur über Katalysatoren – also bekannte Künstler. Und bekannte Namen kosten Geld. Am Ende haben wir fast 400.000 Euro versenkt. Das war echt schlimm. Es war nicht klar, wie wir weiter machen. Der andere Gesellschafter und ich mussten dann jeweils die 200.000 Euro Schulden bezahlen – das war hart. Aber auf der anderen Seite gab es so viel Zuspruch von außen, dass wir zur Bank gegangen sind. Die haben uns geholfen, auch mit einem neuen Konzept. Wir haben dann beim zweiten Reeperbahn Festival total downgesized – nur zwei drei bekannte Acts und 13 statt über 20 Spielorte. Da sind wir dann 2007 gerade so auf Null gekommen. Ein schönes Gefühl damals. Und von da aus konnten wir dann langsam wachsen.

Wie groß ist das Team heute?
Heute sind wir um die 20 Mitarbeiter, etwas saisonal verteilt, aber alle sind, bis auf die Grafiker, festangestellt. Mit dieser Zahl sind wir auch sehr glücklich. Allerdings merke ich, dass ich mich „vom Produkt entfremde“, weil ich natürlich viel aus der Hand geben muss. Deshalb brauche ich Leute, auf die ich mich verlassen kann.

Nicht nur die Fans glücklich machen - auch die Booker und Fachbesucher mit Qualität bedienen.

Wie kann man sich dein Jahr vorstellen?
Mein Jahr geht im vierten Quartal los mit der Bewertung der abgeschlossenen Veranstaltung und der Neuaufstellung der kommenden. Da werden die Budgets und Teilbudgets festgelegt. Nebenbei gibt es die Jahresgespräche mit den Mitarbeitern und deren Perspektive wird erläutert und festgelegt. Jeder will natürlich mehr, sowohl auf dem Gehaltszettel als auch Budget für seinen oder ihren Bereich und man versucht allen gerecht zu werden. Ich habe das Ziel, alles vor Weihnachten fertig zu bekommen. Das ist wichtig, damit alle Klarheit haben, aber es ist dadurch auch für mich das anstrengendste Quartal. Dann kommt das schönste Quartal, das erste des neuen Kalenderjahres, weil der Acker dann schon bestellt ist und man Luft hat zum Nachdenken, ob man noch die Strategie verändert oder neue Ideen einfließen lässt. Es ist auch die Zeit, wo ich auf andere Festivals fahre. Ich fahre auf das Eurosonic nach Groningen, auf das South by Southwest Festival nach Austin und nach New York, wo wir selbst einen kleinen Ableger haben. Auf andere Festivals fahren z.B. die BookerInnen des öffentlichen Programms und des Fachbesucherprogramms. Ich fliege eigentlich nur mit, wenn wir ein neues Fass aufmachen oder wir die Strategie ändern wollen.
Im zweiten Quartal heißt es dann, die endgültigen Entscheidungen zu fällen: Welche Partner nimmt man fürs Streaming, welchen hier und dafür. Und das dritte Quartal ist das Hands-on Quartal, wo das Festival läuft.

Wann wurde dir die Tragweite deines Festivals bewusst, dass es Karrieren von Bands beeinflussen kann? 
Ehrlich gesagt hatte ich von Anfang an die Hoffnung, dass es genau so kommt. Als ich zum ersten Mal in Austin mit den deutschen Bands war, las man sofort danach in den Bios der Künstler, dass sie da gespielt haben. Das war wie ein Prädikat. Und jetzt ist es bei uns genauso. Das ist sehr schön. Wir haben das ja durch unseren Wettbewerb, den ANCHOR, den es seit drei Jahren gibt, noch verstärkt. Er folgt der Logik eines Filmfestivals sehr stringent. Die Künstler müssen sich bewerben, ein Board entscheidet, wer dann am Wettbewerb teilnimmt. Am Ende kann man dann den ANCHOR gewinnen.
Dieses Potential ist da und wird auch genutzt. Wir müssen aber dabei nicht nur die Fans glücklich machen. Wir müssen auch die Booker und andere Fachbesucher mit Qualität bedienen.

Wer nimmt Einfluss auf das Festival?
Wir haben drei mal im Jahr eine Beiratssitzung – in diesem Beirat sind die Geldgeber der öffentlichen Hand, alle deutschen Musikverbände, alle Majors und Indies und Konzertveranstalter vertreten. Die machen eine sehr genaue Auswertung und schauen auf das Fachbesucherprogramm. Die Erkenntnisse und Empfehlungen, die sie geben, werden auch im folgenden Jahr umgesetzt. Das sind sehr intensive lange Sitzungen.

Haben sich die Hörgewohnheiten deiner Besucher geändert?
Die Antwort findet sich in der digitalen Welt. Seit zirka zehn Jahren ändert sich es deutlich – nämlich seit Streaming populär wird. Dadurch ändern sich die Hörgewohnheiten von: Ich höre bewusst, sogar mit körperlichem Aufwand ein Konzeptalbum hin zu, ich probiere mal was unverbindlich aus. Und wir sind mit unserem Festival, wo man von Tür zu Tür gehen kann und immer was anderes hört der Spiegel in der Offlinewelt dazu.
Durch Streaming lernt man neue Künstler schneller kennen – auch wenn man sich nicht so tief mit ihnen befasst. Als Veranstalter müssen wir schauen, was die Leute so hören und das anbieten – aber mit dem ganzen Sound und nicht der digitalen Komprimierung. Manche sind dann erschrocken, wie so etwas live klingen kann.



Guten Musikjournalismus wird man weiterhin brauchen.

Können deutsche Festivals innovativ sein?
Können sie – aber man muss sich den Musikmarkt genau anschauen. Hier gibt es kein gesundes Verhältnis von selbstentwickelten Produkten und Künstlern und der enormen Größe des Marktes. In Deutschland geht es vor allem darum, Künstler aus den USA und UK zu verkaufen. Wir sind hier der nächste Verwerter für den angloamerikanischen Markt und die Themen, die da schon gut gelaufen sind. So ist es auch mit den großen Festivals. Die Agenten verhandeln meist mit englischen Agenten, auch um amerikanische Künstler zu bekommen. Die bringen dann ihre Künstler. Deshalb werden neue Künstler kaum ihre ersten großen Auftritte auf deutschen Festivals haben. Damit würden sie ihre eigene Konzernpolitik zerstören. Kleine Boutiquefestivals können da anders agieren und sind beweglicher.

Intro und Festivalguide sind Geschichte. Findest du das alarmierend?
Die großen Festivals müssen sich jetzt was überlegen, wie sie etwas Neues unterstützen oder zulassen, das dieses Segment übernimmt. Gerade wenn sie wenig Eigenmarketing betrieben haben. Aber ob das jetzt Print sein muss, wage ich zu bezweifeln. Guten Musikjournalismus wird man weiterhin brauchen. Das Auseinandernehmen und Vorstellen von Musik sollten weiterhin auch Leute machen, die davon leben können. Das können keine Algorithmen machen. Gerade lange, zeitunkritische Geschichten können auch über Print laufen – ähnlich wie in anderen journalistischen Bereichen.

Was sind Themen und Baustellen bei euch? 
Also der Kernapparat läuft. Da sitzen die richtigen Leute an den richtigen Stellen. Was wir immer überlegen, wo für das Publikum und das Fachpublikum Schnittstellen in andere Genres und Märkte sind. Wichtig ist in Zukunft die Koppelung mit der Filmwirtschaft, weil wir da einen guten Markt für die Musiker sehen, ihre Musik zu verkaufen. Weiterhin versuchen wir immer gute neue Geschäftsideen – unabhängig davon, ob die aus dem Startup-Kontext kommen oder nicht – in unser Festival zu integrieren und transportieren, wenn sie Sinn machen. So haben wir eine Musikempfehlungsapp sehr erfolgreich auf den Weg gebracht. Wir arbeiten gerade an einer App speziell für urbane Festivals – also die mir hilft, mich smart zu den Veranstaltungsorten durch die Stadt zu bewegen, gleich mit Ticket für Bus und Bahn. Sehr interessant finde ich, uns zu einer Medienmarke weiterzuentwickeln, die parallele Bild – und Tonproduktion bei den Konzerten macht und dann vielleicht mit einem öffentlich- rechtlichen Rundfunkpartner die Ausstrahlung ermöglicht, um noch mehr Reichweite für die Künstler zu erzeugen.

 
 

Was wünscht du dir für die Zukunft?
Wir wollen in Zukunft den Anspruch verwirklichen, mit dem Reeperbahn Festival eine Plattform zu sein, wie sie bei Filmfestivals gar nicht mehr hinterfragt wird. So was wollen wir für die Musikwirtschaft sein. Dazu muss aber kulturpolitisch die Musik einen anderen Stellenwert bekommen. Ernste Musik, wie die Klassik hat das schon, aber die Populärmusik noch lange nicht.