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Popkultur und die politische Mitte

Demokratie ist kein Preisausschreiben


Popkultur und politische Mitte - während die Verbindung beider etwa in den USA bereits allgegenwärtig ist, vermisst man in Deutschland den Willen zur Diskursteilnahme, sowohl seitens der Politiker:innen, als auch der Vertreter:innen des Pop. Journalist und Konferenz-Kurator Manfred Tari kommentiert.

text Manfred Tari
redaktion Isabel Roudsarabi
plakate Bernie Sanders Campaign Store, Billy Nomates

lesezeit 5 Minuten

Ein politisches Großereignis mit popkulturellem Mehrwert wird unversehens zur ersten Freiluftveranstaltung des Jahres mit Festivalcharakter. 

Die Feierlichkeiten zur Amtseinführung von Joe Biden zum Präsidenten der Vereinigten Staaten am 20. Januar, symbolisieren nicht nur einen politischen Gezeitenwechsel, sondern kommen für den Rest der Welt auch mit einer gesellschaftlichen Grußbotschaft daher, indem sich Pop und Politik die Bühne teilen. 

Die Zutaten des Protokolls für offizielle Staatsanlässe beinhalten gewohnheitsgemäß Komponenten wie Pathos, Pomp und Posen. Popkultur indes gehört standesgemäß für die meisten staatstragenden Zeremonien weniger zum Standardprogramm einschlägiger Veranstaltungen. 

Dass US-Präsidenten indes weniger Berührungsängste mit ausgewiesenen Vertreter:innen des Popmusikbetriebs haben, zeigte sich frühzeitig: James Brown spielte 1969 zur ersten Amtseinführung von Richard Nixon, obgleich in dessen Abwesenheit, den Song „Say it Loud, I am Black and Proud.“ Die Beach Boys gaben 1985 Ronald Reagan anlässlich der zweiten Amtszeit ein Ständchen und Michael Jackson sang und tanzte ehedem 1993 für Bill Clinton “We Are the World.”
Barack Obama legte 2009 nach, in dem er ein diversifiziertes Großaufgebot an Pop-Größen, darunter Beyonce, Queen Latifah, Shakira, Stevie Wonder oder die steueroptimierten U2 aufspielen ließ.    

Vergleichbar liest sich dementsprechend der Reigen an Popstars anlässlich der Amtseinführung von Joe Biden und seiner Vize-Präsidentin Kamala Harris. Es traten an und auf Lady Gaga, Beyonce, Bruce Springsteen, Katy Perry, Tim McGraw, Lin-Manuel Miranda, Justin Timberlake, Demi Lovato und John Legend.

Joe Biden - Eine Inauguration als Statement

Somit dürfte halbwegs unstrittig sein, dass nicht erst seit den Wahlsiegen von Barack Obama Popmusik in den USA ohne Weiteres so ein „Mitte“-Ding ist. Im Gegenzug dazu ist die hierzulande oft beschworene politische Mitte größtenteils eine popkulturfreie Zone. 

Zwar gibt es Ver- und Besuche, die eine Annäherung zwischen diesen beiden Welten vermuten lassen könnten, aber so richtig amtlich gibt es kaum Beweise hierfür. Denn, Klaus Meine, der Sänger der Scorpions, ungeachtet des Songs „Winds of Change“, als Stammgast bei den diversen Hochzeiten des Altkanzlers Gerhard Schröder oder Andreas Scheuer im VIP-Bereich beim Stones-Konzert, taugen auch nicht gerade als Beleg für diese Annahme. 

Eine Auswertung der Liste von Träger:innen des Bundesverdienstkreuzes am Bande hingegen hat immerhin das Zeug zum Nachweis dafür, dass diese Auszeichnung mehrheitlich Stehgeiger:innen, Dirigent:innen, Komponist:innen und Musikpädagogen, also gemeinhin Vertreter:innen der klassischen Musik, anstelle irgendwelchen Popmusiker:innen verliehen wird. 

Aber ab und an gibt es auch hierzulande Überraschungen. Eine davon war unlängst im Rahmen der Sendereihe „Forum Demokratie“ auf Phoenix, dem linearen Youporn für Politikbegeisterte, zu beobachten.

Unter der Überschrift „Die Demokratie im Privaten: Wie politisch ist die Pop-Musik?“, erörtert eine paritätisch ausgewogen Boomer-Runde die Wechselwirkung von Musik und Politik. 

Durchaus interessant und Bildungsbürgerkompatibel besetzt arbeiteten sich die Diskutant:innen an der Fragestellung ab, die in Musikmedien oder dem Feuilleton oftmals zu kurz kommt. Zur Einstimmung eine halbe Stunde Sendezeit der thematischen Vergangenheitsbewältigung anhand der Stichwörter Woodstock, Rockpalast und „Die Internationale“, Adenauer-Ära, Hannes Wader sowie des unvermeidlichen Bob (Dylan). Dann der Sprung in die Gegenwart, eingeleitet durch die Frage nach der Richtigkeit der Aussage des Journalisten und Diskussionsteilnehmers Jens Balzer „Pop wäre durchaus eine Spiegelung des rechten Populismus.“ 

Es folgt eine weitere halbe Stunde der soziologischen Analyse von Heimatrock, Deutsch-Rap, Echo-Debatte, Kulturindustrie, Hasskultur, Sexismus und Zeitgeist. Schlussfrage „Inwiefern sollten Musiker ein Stück Vorbild sein oder überfrachtet man die Popmusik dann völlig?" 

Dazu äußert der teilnehmende Historiker Manfred Görtemaker: „Wir haben ja eine Gesellschaft, auch ein politisches System, in dem fast keine Opposition mehr da ist. Wir haben einen Bundestag, in dem fast alle einer Meinung sind, das ist für den gesellschaftlichen Diskussionsprozess nicht gut und insofern haben wir nicht nur ein Problem mit dem Rechtsrock, sondern wir haben auch ein Problem mit der Demokratie.“  

Friede, Freude, Eierkuchen in der Bundespolitik?

Eine dann doch sehr eindimensionale Betrachtung, ähnlich wie die Diskussion selbst. Denn wenn diese ein Problem gehabt haben sollte, dann jenes, dass sie, trotz vieler guter und triftiger Statements, irgendwie zu Deutsch war. Gerade das internationale Momentum in Bezug auf aktuelle Beispiele im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Pop und Politik kam zu kurz.   

Popmusik ist Bestandteil der Popkultur, bildet die große Klammer, um selbst Phänomene von Banksy bis Bernie Sanders darin stattfinden zu lassen. Prominente Beispiele, die zugleich auch die Relevanz der Aussagen eines Xavier Naidoo relativieren könnten. 



Vorbildhaft meinungsbildend

Längst sorgen die Sleaford Mods oder die wunderbare Billy Nomates für die Fortsetzung dessen, womit Billy Bragg und The Clash einst begonnen haben. Es spricht für sich, wenn The 1975 den Song zu einer Rede von Greta Thunberg liefern. Wenn selbst Rihanna sich via Twitter zu den Bauernprotesten in Indien äußert, wenn Disclosure ein Soli-Set auf einer Kundgebung von Extinction Rebellion, wenn Public Enemy und The Strokes aus freien Stücken Soli-Shows für Bernie Sanders zum Besten geben. Selbst wenn die Nachrichtenlage es hergibt, so werden die genannten Beispiele hierzulande selten im Kontext der Wechselwirkung zwischen Pop und Politik erfasst.


Das Pop gesellschaftlicher Mainstream ist, dürfte selbst nicht einmal von den Hardlinern im Deutschen Kulturrat bestritten werden. Jedoch gereicht diese Erkenntnis keineswegs dazu, dass Pop eine entsprechende Beachtung in der amtierenden politischen Mitte in Berlin oder gar in Brüssel erfährt. 

Andererseits macht die Pop-Fraktion es der Politik leicht. Quasi „serviceorientiert“ schickt der Pop-Betrieb anlässlich der Coronakrise eine Handvoll Funktionäre ins Lobby-Rennen, die jetzt nicht unbedingt in der gleichen Preisklasse von Top-Lobbyisten und/oder Polit-Profis wie Sigmar Gabriel (SPD/Tönnies) oder Karl Theodor zu Guttenberg (CSU/Wirecard) spielen.

Erschwerend kommt hinzu, dass ausgerechnet die heimische Pop-Prominenz äußerst zurückhaltend auf Selfie-Anfragen von Politiker:innen im Wahlkampf reagieren. Mit anderen Worten, ein vergleichbar herzliches Foto, wie jenem, auf dem Chuck D von Public Enemy Bernie Sanders auf der Bühne umarmt, ist in Deutschland bislang völlig undenkbar.

Ebenso schwer vorstellbar ist der Wahlkampfauftritt eines Politikers oder einer Politikerin auf einem Festival. Während beispielsweise Jeremy Corbyn, der seinerzeitige Parteichef der britischen Labour Party 2017 eine halbe Stunde auf der Hauptbühne des Glastonbury sprach, käme ein Gastauftritt von Christian Lindner (FDP) auf dem Fusion Festival für beide Seiten wohlmöglich einer traumatischen Erfahrung gleich.

Corona-bedingt ist der, die, das Pop allerdings wie noch nie zuvor auf das Wohlwollen der Politik angewiesen. Aber selbst ohne Corona gedeiht Popkultur nachweislich am besten in liberalen Demokratien, denn deren politischen Attribute wie Meinungsfreiheit und künstlerische Freiheit machen es diesem Kulturzweig einfacher. 

Mission Neuinterpretation der Mitte

In Zeiten des überschwänglichen Populismus, der wachsenden sozialen Ungleichheiten dank neoliberaler Allmachtsphantasien sowie sonstigen Ungemach und gesellschaftlichen Defiziten, ist das Engagement für demokratische Verhältnisse aber durchaus angebracht. 

Die Pop-Fraktion wiederum hat ihr Potential zur politischen Weltverbesserung bislang noch nicht einmal ansatzweise ausgespielt. Dabei verfügen die Akteur:innen und Aktivist:innen dieses Genres über ein Kommunikations- und Mobilisierungspotential, dass unter Umständen wahlentscheidend sein kann. 

Ob Wahlempfehlung oder Wahlaufruf, das Publikum für Popkultur ist eine durch Parteien weitestgehend unerschlossene Wählergruppe.

Und die können die Protagonist:innen dieses Metiers allemal besser selbst erreichen, als sämtliche Wahlkampfstrateg:innen in den Parteizentralen.

Ganz gleich ob Biden oder Brexit, es sind nur zwei aktuelle Beispiele, die veranschaulichen, warum es notwendig ist, der Demokratie trotz allem die Ehre zu erweisen, demokratischen Parteien oder Prozessen auf die Sprünge zu helfen. Die Demokratie bietet hierzu, allen Unkenrufen zum Trotz, immer noch bessere Möglichkeiten als autokratische oder totalitäre Systeme.    

Entsprechende Beispiele des politischen Engagements mit Pop-Bezug sind die Demonstrationen anlässlich der Inhaftierung des Rappers Pablo Hasel, unter anderem wegen des Vorwurfs der „Majestätsbeleidigung“, in Spanien. Der Einzug der Bierpartei und ihres Parteivorsitzenden Marco Pogo, dem Sänger der Band Turbobier, ins Wiener Stadtparlament. Nicht zu vergessen, die unlängst gescheiterte Präsidentschaftskandidatur des afrikanischen Popstars Boby Wine in seiner Mission als „Ghetto President“ in Uganda oder die Schulpatenschaft von Herrn Flake, dem Rammstein-Keyborder, für die Mühlenbecker Käthe-Kollwitz-Gesamtschule, der „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage.“

2021 ist ein so genanntes Superwahljahr und ein weiteres Jahr in Folge, in denen Festivals pausieren werden.

Die Pop-Lobby hingegen hat bislang politisch noch nicht das erreicht, was anderen Firmen, Verbänden oder dem institutionalisierten Kulturbereich bereits gelungen ist.

Es gelang ihnen bislang nicht, dem dafür zuständigen Triumvirat der regierenden Corona-Realos bestehend aus Monika Grütters (CDU), Staatsministerin für Kultur & Medien, Wirtschaftsminister Peter Altmeier (CDU) und dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), jene Hilfsmaßnahmen zu entlocken, die notwendig und angemessen wären. Selbst unter Berücksichtigung einiger guter und zielführender Ansätze, besteht dennoch Nachbesserungsbedarf, allerdings deutlicher weitergedacht und gefasst, als dass lediglich die notleidendenden Teile der Musikbranche bestenfalls dabei gerade so eben über die Runden kommt.

Die Zeiten der vornehmen Zurückhaltung sind spätestens seit und mit Corona vorbei. Es kann doch nicht sein, darauf zu hoffen, dass wieder einmal nur Rezo aktiv in den Wahlkampf eingreift. Wenn allerdings Phoenix dazu im Rahmen der Serie „Forum Demokratie“ ein Streitgespräch von Feine Sahne Fischfilet mit Horst Seehofer (CSU) über Rassismus in Sicherheitsbehörden zustande bringt, kommen wir der Sache schon näher. Noch schöner wäre nur, wenn die Angehörigen des Veranstaltungsmetiers den Obdachlosen und sozialschwachen Bevölkerungsschichten für ihre Veranstaltungen Freikarten zwecks gesellschaftlicher Teilhabe zugutekommen lassen würden.

Popkultur mag vielleicht nicht systemrelevant sein, aber für die demokratische Gesellschaften ist sie bis auf weiteres systemimmanent. Fazit: Die Popfraktion hat es anlässlich der Bundestagswahl 2021 selbst in der Hand, der, die, das Politik aufzuzeigen, dass auch das Publikum für Popkultur potentiellen Wähler:innen sind. Zur Erinnerung: Demokratie ist kein Preisausschreiben...